Jubiläumskonzert in Hannover zwischen Nostalgie und neuer Frische

Ein Heimspiel mit Geschichte

Ein lauer Sommerabend in der Gilde Parkbühne Hannover, und die Kulisse könnte passender nicht sein: Heinz Rudolf Kunze, seit Jahrzehnten Wahl-Hannoveraner, feiert an diesem Mittwoch mit 2600 Fans ein Album, das für ihn selbst den entscheidenden Wendepunkt bedeutete. Dein ist mein ganzes Herz erschien 1985 – und veränderte die Laufbahn des bis dahin eher im studentischen Liedermacher-Milieu verorteten Künstlers. Mit diesem Werk wurde er zum Rockmusiker, der Hallen füllte, Chartplatzierungen erreichte und in Fernsehshows präsent war.

Kunze selbst stellt diesen zeitlichen Kontext gleich zu Beginn her. Mit einem Augenzwinkern blickt er zurück: 1985 sei nicht nur das Jahr der Albumveröffentlichung gewesen, sondern auch das Geburtsjahr seines Sohnes Paul. Johannes Rau gewann mit der SPD in Nordrhein-Westfalen die Landtagswahlen mit 52,1 Prozent – „kein Witz“, wie Kunze betont – und Popsänger Tim Bendzko kam zur Welt. Der Rückblick verknüpft Persönliches, Politisches und Popkulturelles – und markiert die Zeitreise, auf die er an diesem Abend sein Publikum mitnimmt.

Das Album in voller Länge

Herzstück des Programms ist die vollständige Aufführung von Dein ist mein ganzes Herz. Kunze und seine Band spielen das Album in Gänze, Titel für Titel. Manche Songs tauchen nur kurz auf – etwa „Packt sie und zerhackt sie“, seine bissige Abrechnung mit Fußballhooligans. Andere Stücke dagegen entfalten ihre ganze Bedeutung, weil sie zentrale Facetten von Kunzes Kunst sichtbar machen: die sprachliche Präzision, das Gespür für politische Subtexte und die Fähigkeit, aus wenigen Worten ganze Weltbilder zu entwerfen.

„Madagaskar“ als Schlüsselstück

Besonders deutlich wird dies in „Madagaskar“, das zur Mitte des Abends erklingt. Der Song bezieht sich auf den sogenannten Madagaskar-Plan der Nazis, der die Deportation der europäischen Juden auf die Insel vor der ostafrikanischen Küste vorsah. Kunze geht in seinen Texten jedoch noch einen Schritt weiter. Er zeigt, wie nach 1945 in deutschen Stammtischrunden versucht wurde, die Verbrechen des Holocaust zu relativieren. Ohne ein einziges Mal die Worte „Nazis“ oder „Juden“ in den Mund zu nehmen, entlarvt er die verharmlosenden Phrasen: „Die haben das doch gar nicht gewollt, die wollten die doch alle exportieren, der andere Befehl kam doch ganz spät.“ Ein Meisterstück der Textkunst, das auch in Hannover für stille Betroffenheit und anschließend umso lauteren Applaus sorgt.

Hits, Raritäten und lyrische Tiefe

Doch der Abend beschränkt sich nicht allein auf das Jubiläumsalbum. Kunze streut Songs aus anderen Schaffensphasen ein. „Fallensteller“ und „Vertriebener“ reihen sich ein, ebenso „Dies ist Klaus“. Mit „Väter“ präsentiert er eine sperrige, zugleich lyrisch dichte Klavierballade, die im Kontrast zu den rockigeren Momenten steht.

Daneben gibt es Wiedersehen mit Stücken, die längst zu festen Größen in seinem Repertoire geworden sind: „Leg nicht auf“, „Mit Leib und Seele“ oder „Wenn du nicht wiederkommst“. Auch „Finden Sie Mabel“ darf nicht fehlen, wenn auch ohne das charakteristische Lapsteel-Jaulen, das den Song einst prägte.

Kunze hatte im Vorfeld angekündigt, dass kein Lied des Abends jünger als 20 Jahre sein würde. Dieses Versprechen bricht er – augenzwinkernd – mit „Unbeliebt“, das 14 Jahre alt ist und damit als „Küken“ in der Setlist durchgeht. Für das Publikum ist es ein willkommener Farbtupfer in einer sonst stark von Nostalgie geprägten Auswahl.

Eine Stimme, die jung geblieben ist

Auffällig bleibt, wie klar und frisch Kunzes Stimme auch 40 Jahre nach Veröffentlichung des Albums klingt. Das Material trägt er mit einer Präsenz vor, die nichts von Routine hat. Währenddessen merkt man dem Publikum an, dass auch die Fans älter geworden sind: Beim typischen Überkopf-Mitklatschen gehen die Arme etwas früher wieder runter. Es passt zu diesem Abend, der gleichermaßen Rückblick wie Gegenwart ist.

Heiner Lürig kehrt zurück

Einer der emotionalsten Momente kommt zum Schluss. Kunze hebt sich den Titelsong „Dein ist mein ganzes Herz“ bis zum letzten Programmpunkt vor den Zugaben auf – und bittet dafür einen Gast auf die Bühne: Heiner Lürig. Der Gitarrist und Songwriting-Partner hatte entscheidenden Anteil an der Entstehung des Albums und am damaligen Durchbruch. Gemeinsam bringen die beiden den Song, der für Kunzes Karriere wie kein zweiter steht. Es ist ein Moment, der die lange gemeinsame Geschichte von Musiker und Weggefährte sichtbar macht.

Zugaben und Reminiszenzen

Nach diesem Höhepunkt folgen drei Zugabenblöcke. Kunze verabschiedet sich nicht nur mit weiteren eigenen Stücken, sondern baut in seine Lieder auch Reminiszenzen an musikalische Vorbilder ein – darunter die Kinks, die Stones und Tom Petty. Es sind kleine Verweise, die deutlich machen, aus welcher musikalischen Welt Kunzes Schaffen ursprünglich gespeist wurde.

Nostalgie, die frisch klingt

So endet ein Konzert, das Kunze selbst als Abend für Nostalgiker angekündigt hatte. Doch trotz aller Rückblicke auf 1985 wirkt die Show nicht wie ein Museumsgang. Vielmehr entsteht ein Abend, der sich tief in der Vergangenheit verankert und dennoch frisch und lebendig wirkt. Hannover feierte seinen Wahl-Hannoveraner mit stehenden Ovationen – und Kunze zeigte, dass Dein ist mein ganzes Herz auch nach vier Jahrzehnten nichts von seiner Strahlkraft verloren hat.

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