Wenn Pop im 21. Jahrhundert noch eine Zukunft hat, dann sieht sie wohl so aus: grell, schillernd, überfordernd – und zugleich voller Gefühl. Mit dem Auftakt ihrer restlos ausverkauften Deutschlandtour in der ZAG Arena Hannover präsentiert Katy Perry eine Show, die zwischen Genialität und Reizüberflutung pendelt – ein schillerndes Kaleidoskop aus Klang, Licht und purer Fantasie.
Rückkehr in die grelle Parallelwelt
Popmusik besitzt die seltene Fähigkeit, einen zurückzuversetzen in jene Sommer, in denen alles möglich schien. 2008 war das, als Perry mit I Kissed a Girl die Popwelt umkrempelte – frech, bunt, unberechenbar. Sie war der perfekte Popstar für eine Generation, die Spaß zur Haltung erhob. 17 Jahre später wirkt die Lifetimes Tour wie ein Rückgriff auf diese Zeit – doch durch das Prisma einer Popwelt, die erwachsen geworden ist.
Die Welt ist ernster, zynischer, komplexer geworden. Perry antwortet mit einer Flucht nach vorn: in Farbe, Fantasie und Chaos. Wer die ZAG Arena an diesem Abend betritt, betritt ein anderes Universum – eines, in dem Neonfarben über die Realität regieren und Pop plötzlich wieder Utopie wird.
Zwischen Kritik und Comeback
Nach fast zwei Jahrzehnten Karriere ist Perrys Position im Popjahr 2025 widersprüchlich. Nach Jahren makelloser Chartdominanz hat ihre Strahlkraft an Selbstverständlichkeit verloren. Ihr aktuelles Album 143 spaltete Fans und Kritiker, und der nordamerikanische Tourauftakt wurde teils zwiespältig aufgenommen.
Doch wer an diesem Abend in Hannover steht, spürt: Hier will jemand etwas beweisen. Perry zeigt sich kämpferisch, ambitioniert, hochkonzentriert – als Performerin, die sich der Gegenwart stellt, indem sie sie mit Übermaß übermalt. Die ZAG Arena ist bis auf den letzten Platz gefüllt, die Tickets waren binnen einer Stunde vergriffen. Hannover ist die erste Station des Deutschland-Abschnitts, dem Berlin, Köln und München folgen werden. Schon beim Lichtaus geht ein spürbares Beben durch die Menge – die Spannung eines Publikums, das weiß, dass es Zeuge eines besonderen Abends wird.
Bühne als Cyberspace
Der erste Blick auf die Bühne genügt, um zu erkennen: Das wird kein gewöhnliches Popkonzert. Zwei geschwungene Laufstege bilden ein doppeltes Unendlichkeitszeichen – Symbol der Tour, Sinnbild eines Popuniversums ohne Anfang und Ende. Riesige LED-Wände, Laserkanonen, 3D-Projektionen und Roboterarme verwandeln die Arena in eine Mischung aus Videospiel, Filmset und digitalem Traum.
Das Konzept: Perry verkörpert den Cyborg „KP143“, halb Mensch, halb Maschine, die in einer dystopischen Welt gegen ein übermächtiges KI-System namens Mainframe kämpft. Was zunächst wie ein loses Narrativ wirkt, entpuppt sich als roter Faden des Abends – eine moderne Popoper in mehreren Akten, in der Perry die Grenzen von Technologie und Emotion auslotet.
Die Bühne lebt, alles bewegt sich. Lichter fließen, Projektionen pulsieren, Tänzerinnen in Chromkostümen wirbeln durch ein digitales Labyrinth. Das Publikum weiß kaum, wohin es zuerst sehen soll – und genau das ist der Effekt: totale Überforderung als Stilmittel.
Der Auftakt: Hochspannung und Herzklopfen
Perry startet die Show mitten in der Halle. Aus der Bühnenmitte steigt sie in die Höhe, umgeben von Lichtspiralen – ein Auftakt zwischen Science-Fiction und Showbiz. Artificial, Chained to the Rhythm und Teary Eyes eröffnen das Konzert mit pulsierendem Elektropop und choreografischer Präzision.
Dann folgt Dark Horse: Die Arena verwandelt sich in ein violett-blaues Lasermeer, während der Beat schwer durch den Boden vibriert. Die Synchronität von Licht, Tanz und Sound ist beeindruckend – kein Zufall, keine Sekunde ungenutzt.
Perry wirkt fokussiert, professionell, präsent. Ihre Stimme trägt mühelos durch die Halle – kräftig, klar, unverkennbar. Nichts klingt nach Konserve, kein Playback, keine Tricks. Eine starke Liveband begleitet sie, im Hintergrund, aber spürbar.
Zwischen Popgeschichte und greller Nostalgie
Nach dem futuristischen Auftakt folgt der Nostalgie-Block – ein atemloser Ritt durch ihre größten Hits. California Gurls, Teenage Dream, Hot n Cold und Last Friday Night (T.G.I.F.) rauschen in einem Medley vorbei, das zugleich Rückblick und Selbstparodie ist.
Nur I Kissed a Girl bekommt die volle Länge – neu instrumentiert, mit druckvollen Gitarren und dunklem Groove, beinahe wie ein Rocksong. Die Fans toben, der Kreischalarm erreicht Höchststufe.
Visuell gleicht dieser Abschnitt einem Zuckerschock: Bonbonfarben, Lichteffekte, Tänzer in überdimensionalen Kostümen, animierte Herzen, fliegende Katzen. Es ist Pop im Ausnahmezustand – überladen, absurd, aber hochpräzise.
Der Moment der Nähe
Zwischen all der Technik gelingt Perry etwas, was viele ihrer Kolleginnen längst verlernt haben: echte Nähe. Inmitten des dritten Aktes unterbricht sie die Show, als sie im Publikum zwei Frauen entdeckt. Gerade hat eine von ihnen ihrer Partnerin einen Heiratsantrag gemacht – beide kommen aus Brasilien, sind extra für das Konzert nach Hannover gereist.
Perry holt die beiden auf die Bühne, um spontan Double Rainbow zu singen – außerhalb des Programms, begleitet nur von Klavier. Es ist einer dieser seltenen Popmomente, in denen alles stillsteht. Kein Effekt, keine Show – nur Stimme, Menschlichkeit, und der Regenbogen auf der LED-Wand.
Die Halle reagiert mit minutenlangem Jubel, Tränen, Gänsehaut. Es ist der emotionalste Moment des Abends, und vielleicht der ehrlichste.
Zwischen Wahnsinn und Magie
Nach diesem kurzen Innehalten nimmt das Spektakel wieder Fahrt auf. Nirvana, Crush und I’m His, He’s Mine bilden einen atmosphärischen Mittelteil, bevor Perry mit Wide Awake einen der stärksten Songs ihrer Karriere präsentiert – schlicht, kraftvoll, emotional.
Die Bühne taucht in kaltes Blau, sie steht allein im Lichtkegel. Kein visuelles Ablenkungsmanöver, kein Kostüm – nur Stimme und Präsenz. Das Publikum singt leise mit, tausende Smartphones leuchten im Takt. In diesem Moment zeigt Perry, dass sie auch ohne Überfluss fesseln kann.
Das Maschinenfinale
Im letzten Drittel zieht die Show noch einmal alle Register. E.T., Part of Me und Rise verwandeln die ZAG Arena in ein digitales Schlachtfeld. Feuerfontänen schießen aus der Bühne, Roboterarme greifen in den Raum, Laser tanzen über die Köpfe des Publikums.
Die technische Perfektion ist atemberaubend – jede Bewegung ist getaktet, jeder Effekt präzise. Trotzdem bleibt es menschlich: Perry lacht, interagiert, improvisiert. Ihre Routine verbindet sich mit Spielfreude, ihre Gestik wirkt spontan, ihr Blick sucht das Publikum.
Hier zeigt sich, warum sie trotz aller Kritik noch immer zu den größten Popkünstlerinnen ihrer Generation gehört. Sie kontrolliert das Chaos – oder lässt sich gerade so weit davon tragen, dass es echt wirkt.
Der finale Aufstieg
Dann das große Finale: Roar, Daisies und Firework. Perry erscheint auf einem riesigen, bunt beleuchteten Schmetterling, der über die Köpfe der Zuschauer schwebt. Unter ihr ein Meer aus Lichtern, über ihr Feuerwerk und Funkenregen.
Die Stimmung in der Halle kocht. Niemand sitzt, jeder singt. Firework setzt den Schlussakkord – Pyrotechnik, Konfetti, Flammen, alles auf Anschlag. Für manche überzogen, für andere magisch. Für alle unvergesslich.
Mehr als nur Spektakel
Trotz aller Größe bleibt die Lifetimes Tour kein seelenloses Showprodukt. Perry ist der emotionale Mittelpunkt inmitten der Technik. Zwischen den Songs spricht sie charmant mit den Fans, scherzt, bedankt sich. Die Mischung aus Nähe und Professionalität wirkt glaubwürdig – eine Künstlerin, die weiß, wie Show funktioniert, ohne ihre Menschlichkeit zu verlieren.
Das Publikum ist bunt gemischt: Familien mit Kindern, Pärchen im Rentenalter, queere Fans, bunt verkleidete Gruppen. Es ist diese Vielfalt, die Perrys Pop-Universum ausmacht – ein Raum, in dem alles erlaubt scheint und niemand ausgeschlossen wird.
Zwischen Widerspruch und Wirkung
So überladen, absurd und verwirrend dieses Konzept auch wirken mag – es folgt einer klaren Idee. Perry spielt mit der Überforderung und nutzt sie als künstlerisches Prinzip. Sie stellt die Frage, ob Pop im Zeitalter der künstlichen Welten überhaupt noch echt sein kann – und beantwortet sie mit einem überwältigenden „Ja, aber anders“.
Nicht jeder Song zündet perfekt, manche Übergänge stolpern, einige Visuals wirken beliebig. Doch das ist Teil des Plans. Lifetimes ist kein glattes Spektakel, sondern eine organische Popoper über Chaos, Kontrolle und Identität.
Ein Popuniversum im Ausnahmezustand
Katy Perry hat mit dem Auftakt ihrer Deutschlandtour in Hannover mehr geliefert als ein Konzert. Sie hat ein Erlebnis geschaffen – ein audiovisuelles Rauschmittel, das zwischen Kitsch und Konzept balanciert.
Die Lifetimes Tour ist überfordernd, faszinierend, konsequent. Sie ist eine moderne Oper über Mensch und Maschine, über Nähe und Distanz, über die Sehnsucht nach Echtheit in einer digitalen Welt.
Wer an diesem Abend dabei war, hat Pop auf höchstem technischen und emotionalen Niveau erlebt – spektakulär, widersprüchlich, voller Energie.
Vielleicht ist genau das die ehrlichste Form von Pop, die es derzeit gibt.